Gleisanschluss der Fa. Brachvogel

Über mehr als 100 Jahre bediente die Braunschweiger Ringbahn die Firmen der heute "Ringgebiet" genannten Stadtteile im Westen und Norden Braunschweigs. Bis zu 53 Gleisanschlüsse mit 64 Firmen waren zeitweise zwischen Gliesmarode und Broitzem angebunden. Jeder einzelne hat eine Geschichte, ihre Entwicklung spiegelt das Gewerbe der Stadt Braunschweig von der Industriellen Revolution bis in die Gegenwart wieder - Lebensmittel, Maschinen, Fahrzeuge, Holz, Ziegel, Grund- und Fertigprodukte aller Art, Kohle - alles wurde mit der Bahn angeliefert oder versandt.

Nur ein Beispiel unter vielen, aber durch die aufgefundene Drehscheibe bekannt geworden, ist der Anschluss Brachvogel am Westbahnhof. Seine Geschichte beginnt schon 1886 mit der Eröffnung der Ringbahn - die 1874 gegründete Holzhandlung Brachvogel hatte von Anfang an ein Anschlussgleis an den Westbahnhof, auf dem Bild aus den zwanziger Jahren ist es ganz rechts im Bild zu sehen, es führte unmittelbar in den Bahnhof hinein:

Das umfangreiche Gelände der Firma Brachvogel erstreckte sich südlich der Broitzemer Straße, wo damals noch freies Feld war. Die Straße "Am Jödebrunnen" gab es noch nicht, die Postadresse von Brachvogel war "Blumenstraße 9":

Die Firma, die sich später zu einer "Speicherei" wandelte und in "Friedrich Brachvogel Erben" umfirmierte, bekam laut den Geschäftsberichten der Braunschweigischen Landes-Eisenbahn im Jahr 1896 ein zweites Anschlussgleis, und im Jahr 1913 noch eine "größere Erweiterung" ihres Anschlusses. Auf dem verzweigten Gelände bot sie zahlreichen Firmen über die Jahre hinweg die Möglichkeit, die Gleise als Unteranschliesser mit zu nutzen. Mehrere, heute längst vergessene Firmen waren hier ansässig und wurden mit der Bahn beliefert:

  • W. Paulssen Wwe., Landesprodukte, Mühlenfabrikate und Colonialwaren, von 1898 bis mindestens 1955
  • Reima Feinkostfabrik, als Nachfolger von Paulssen, bis mindestens 1975
  • Drenckhahn & Sudhop, Baugeschäft, von 1896 bis 1922
  • Spedition Falke, zumindest von 1955 bis 1965
  • Th. Goldschmidt, zumindest von 1950 bis 1975
  • Holz Henkel, zumindest von 1955 bis 1974

Typisch für die "Gründerzeit" waren kunstvolle Firmenbriefköpfe und Werbeanzeigen, in denen die Firma oft etwas idealisiert dargestellt war, und der Gleisanschluss war immer mit im Bild:

Im Laufe der Jahre wurde es richtig eng auf dem mittlerweile von Straßen eingerahmten Areal. Rangiert wurde entweder durch Rangierloks des Westbahnhofs, die Firma Goldschmidt hatte sogar ein selbstgebautes Gefährt mit Benzinmotor, oder einfach mit der Hand. Um die verwinkelten Gleise zu erreichen, hatte Brachvogel zwei Waggondrehscheiben eingebaut, so dass ein kleines Gleisnetz entstanden war, wie der Plan von 1955 zeigt:

Irgendwann, als der Güterverkehr im Westbahnhof immer ruhiger wurde, verschwand auch die Firma Brachvogel mit ihren Unteranschließern von der Bildfläche. Als zum Jahresende 1997 der Westbahnhof stillgelegt wurde, war schon lange als letzter Anschließer nur noch der Großmarkt bedient worden. Das Brachvogel-Areal verwandelte sich in ein Biotop, das aber die gedrängte Enge der verschiedenen Firmen noch erkennen ließ, und in dem sogar Gleisreste liegen blieben, wie auf diesem Bild von 2013 zu sehen:

In diesem Areal wurde schließlich 2016 eine letzte Waggondrehscheibe entdeckt, freigelegt und gesichert, sie soll der Nachwelt erhalten bleiben. Wie alt sie ist, das hat sie bisher nicht preisgegeben. Der älteste Plan, der Drehscheiben in diesem Areal zeigt, ist der von 1955, aber vielleicht kam sie schon viel früher zum Einbau, wer weiß? Auch der Hersteller ist nicht bekannt, denkbar wäre die Braunschweiger Firma Heinrich Büssing, aber das ist nur geraten. Das gute Stück misst ca. 7 m im Durchmesser, und war damit auch für neuere, aber maximal zweiachsige Güterwagen geeignet. Es wurde mit Muskelkraft bewegt, indem eine Holzstange seitlich eingesteckt und zum Schieben benutzt wurde.

So hat sich ein schönes Erinnerungsstück der Braunschweiger Industriekultur und früherer Arbeitswelten erhalten, für das hoffentlich ein angemessener Platz gefunden wird!

[Autor: Christopher Wulfgramm]


Buchtipp: "Die Braunschweigische Landes-Eisenbahn"

Die komplette Geschichte der Braunschweigischen Landes-Eisenbahn, der Ringbahn und der hier bedienten Firmen wird in dem neu erschienenen Buch des selben Verfassers beleuchtet:

"Die Braunschweigische Landes-Eisenbahn. Eine große Privatbahn zwischen Südheide und Harz." EK-Verlag Freiburg, ISBN 978-3-8446-6409-6, 168 Seiten mit 350 Abbildungen, 39,90 Euro